Transatlantische Theorienetzwerke: Akteure, Texte und Strukturen im 20. Jahrhundert

Wege in die Forschung II - Forschungsförderung durch das Dezernat 4 der Leibniz Universität Hannover

Projektlaufzeit: 01.04.2018 - 30.06.2019

Dr. Mark Minnes, Natascha Rempel (M.A.)

Call for Papers

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Die Idee hinter dem Projekt: Geisteswissenschaften und Netzwerke?

Ob in beruflichen Zusammenhängen, in der Politik oder im Privaten: Konzept und Praxis der ‚sozialen Netzwerke‘ haben seit Beginn des neuen Jahrtausends und unter neuen technischen Rahmenbedingun­gen eine unerhörte Konjunktur. In den Geisteswissenschaften hat parallel dazu die Faszination für die Materialität ihrer Gegenstände, Produktionsbedingungen und sozialen Relationen sowie neue, digitale Methodenfelder (digital humanities) zugenommen. Das hier beantragte Projekt erprobt, inwieweit diese Paradigmen dazu geeignet sind, literarische und theoretische Textproduktion als eine historisch tradierte Manifestation ‚sozialer Netzwerke‘ zu beleuchten – und welche Paradigmen sich kritisch da­von abgrenzen (z.B. ‚Systeme‘, ‚Familien(ähnlichkeit)‘ oder kunstwissenschaftliche Begriffe). Daher wird im Rahmen dieses Projekts in unterschiedlichen Arbeitsbereichen untersucht, inwiefern literarische Schreibformen als relationale Beziehungsmodelle lesbar werden (Widmung, Zitat, Kommentierung, threadslinks) – und umgekehrt.

Der Begriff des ‚Transatlantischen‘ verweist hier darauf, dass Akteure im 20. Jahrhundert in verschiedenen Migrationswellen den Atlantik überquerten und daher ihre lebensweltlichen, theoretischen und ästhetischen Projekte in neue kulturelle Kontexte versetzen mussten. Transatlantische Theorienetzwerke: Akteure, Texte und Strukturen im 20. Jahrhundert  untersucht also nicht nur, wie der Zusammenhang zwi­schen lebensweltlicher und virtueller (d.h. hier: textueller) Vernetzung beschrieben werden kann, sondern es hinterfragt auch, welche Konsequenzen Migration und Exil für diesen Konnex haben. Anhand von ästhetischen und theoretischen transatlantischen Netzwerken wird das Projekt zeigen, dass die Literatur- und Kulturwissenschaft auch in der Gegenwart einen wichtigen konzeptuellen Beitrag zum besseren Verständnis von ‚sozialen Netzwerken‘ leisten kann.


Theoriegeschichte

Der erste wissenschaftliche Hintergrund beruht auf der Tatsache, dass weite Teile der philologischen und literaturtheoretischen Fachtradition historisch geworden sind. Dieser Prozess hat bewirkt, dass ‚Philologie‘ und ‚Theorie‘ als Hochwertbegriffe derart in den Blick gekommen sind, dass sie in Bezug auf soziale Praktiken, (Kultur)Politik und Institutionen betrachtet werden. Auch hat Theoriegeschichte zu einer neuen Lektüre der ‚Klassiker‘ geführt. Ganz aktuell ist das Interesse an der in der alten Bundesrepublik führenden Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik. Diese von Hans Robert Jauß – einem höchst ambivalenten Akteur – wesentlich geprägte Ar­beitsgruppe dokumentierte ihre Treffen ab 1964 in einflussreichen Publikationen.

Letztere können im Kontext des vorliegenden Pro­jekts als ein wesentliches Beispiel dafür gelten, wie Publikationen das Zusammenspiel von Theorie, Netzwerken und Institutionen dauerhaft lesbar machen. Das eben­falls gesteigerte Interesse an dem 1936 emigrierten Romanisten und säkularen Juden Erich Auerbach zeigt einen anderen Aspekt auf: Während Poetik und Hermeneutik nach Krieg und Shoah eine Leerstelle fest besetzte, zeigt die Emigration Auerbachs, wie Konzepte in Bewe­gung geraten und neue, transatlantische Kontexte entstehen lassen. Dies wirft neue, theoriegeschichtliche Fragen auf.  

© Mark Minnes
Widmung von H. R. Jauß an SED-Mitglied M. Naumann. Erster Band der Gruppe Poetik und Hermeneutik.

© Mark Minnes
Wohnbibliothek von Alfonso Reyes in Mexiko-Stadt

Netzwerkforschung

Der Diskurs vom ‚Ende der Theorie‘ übersieht, dass es im Rahmen von open access Initiativen in der Forschung und Theorieblogs nur zu einer Verlage­rung der ‚Orte‘ und Formen von Literatur- und Theorieproduktion gekommen ist. Darauf reagiert das weite Methodenfeld der digital humanities, das so diverse Bereiche wie Editionswissenschaft, Narra­tologie/plot analysis, Visualisierungsmethoden und Netzwerkforschung beinhaltet.  

Diese Forschungslinien haben zu neuen Darstellungsweisen literaturwis­senschaftlicher Ergebnisse und zu neuen, teils provokanten Theorieprogrammen wie distant reading geführt. Sie sind ein paradigmatisches Beispiel für die Verschiebung und Entgrenzung litera­turtheoretischer Reflexion, so dass sie mit einer Epistemologie der Literatur- und Kulturwissen­schaften in Zeiten der Globalisierung verknüpft werden können: Sie er­fassen ‚transareale‘ Beziehungen im (atlantischen) Raum, deterrito­rialisierte Akteure und verbinden die Mikroebene der Philologie (etwa die Stilistik) mit einer intermedial, politisch konnotierten Makroebene der Kulturwissenschaften.  


Weltliteratur

Den auf Goethe zurückgehenden und durch Auerbach aufge­griffenen Begriff der ‚Weltliteratur‘ gilt es neu zu denken. Romanistik, Komparatistik und postkoloniale Studien haben unterschiedlich auf diese Diagnose reagiert. Sie geben unterschiedliche Antworten auf die Fragen, wie wirtschaftliche, politische Macht und (autonome?) Kunst interagieren, wie mit der ästhetischen, konzeptuellen und editorischen Hegemonie Europas (und der USA) umgegangen werden sollte sowie welche Konsequenzen aus dem Begriff ‚Weltliteratur‘ erwachsen. 

© Mark Minnes

In jedem Fall wird der Begriff Weltliteratur aber so gedeutet, dass er nicht mehr auf ein Zentrum literarischer Kultur, Theoriebildung und Moderne verweist, sondern auf multiple ‚Literaturen der Welt‘ und globale Wechselwirkungen. Dies führt zu der „Einsicht, dass Literatur ‚wandert‘ – was einst, literarisch gesehen, Brachland war, kann zu einem späteren Zeitpunkt zu einem hot spot der Literatur werden“ (Barbara Piatti). Lateinamerika ist hier­für das prägende Beispiel.  


© Mark Minnes
Schematische Darstellung der im WiF-Projekt erfassten Akteure

Postdoc-Projekt Dr. Mark Minnes: Erich Auerbach und die Dezentrierung der Philologie

Auerbach bildet den Schwerpunkt der Arbeit, weil sein Hauptwerk Mimesis (1946) die Philologie als critical humanism, d.h. als eine kulturelle Praxis kulturpolitischer Aushandlungen, Ver- und Entflechtungen, Aneignung, Kritik oder Ausgrenzung – mithin als humanistisch inspirierte, relationale Form der Autorschaft – lesbar macht. Die theoriegeschichtliche Auerbach-Forschung hat zuletzt einen neuen Wissensstand erreicht. Dabei fällt jedoch auf, dass Auerbach heute von Philosophen, Komparatisten, Medienwissenschaftlern bearbeitet wird, jedoch kaum noch in seiner eigenen Disziplin und auch nicht (mehr) aus lateinamerikanistisch-postkolonialer Perspektive.

Die Tatsache, dass Intellektu­elle wie E. Said, H. Bloom, F. Jameson, F. Moretti oder J. Ortega teils affirmativ, teils kritisch-polemisch auf Auerbach Bezug genommen haben, kann als Beleg dafür gelten, dass die historische ‚Tiefe‘ seiner Konzeption von Philologie inzwischen durch komparatistische und postkoloniale ‚Breite‘ ersetzt und infrage gestellt wurde. Dennoch ist die Rolle Auerbachs gerade im postkolonialen Raum Lateinameri­kas kaum aufgearbeitet: Welche Rolle spiel­ten heimgekehrte Exilanten wie Alfonso Reyes bei der insti­tutionellen und theoretischen Integration einer neuen Migra­tionswelle aus Europa? Welches interamerikanische Netz­werk von Akteuren bewirkte aus welchen Gründen, dass Auerbachs Hauptwerk Mimesis noch vor der englischen Übersetzung (1953) in Mexiko erschien (1950)? Welchen Wandlungen werden Auerbachs von der italienischen Renais­sance geschulten Konzepte in Lateinamerika unterworfen (obscuritas vs. venustas, Darstellung, Realismus, ‚Kreatür­lichkeit‘ etc.)? Wie kehrten neue Kanons und Konzepte nach Europa zurück? Welche jüdischen Kollegen Auerbachs emi­grierten – wie Ulrich Leo (1890-1964) – direkt nach Latein­amerika? Die inzwischen gut erforschte Verwandlung des Romanisten Auerbach in einen critic aus Yale hat den Blick auf diese zweite, ‚dezentrierte‘ Achse der Theorierezeption verstellt. Auch fehlt es noch immer an einer intellektuellen Biographie Auerbachs und einem synthetischen Blick auf sein Wirken in dem Dreieck Europa, USA und Lateinamerika.    


Promotionsprojekt M.A. Natascha Rempel: Deterritorialisierung der Theorie in der Revista Diáspora(s)

Diáspora(s) bezeichnet eine intellektuelle, philosophisch-literarische Gruppe von acht Kubanern, die sich 1992 in Havanna zusammenschloss. Unter den schwierigen Umständen, in die Kuba nach dem Fall der Berliner Mauer geriet, erschien zwischen 1997 und 2002 ihre gleichnamige, regimekritische Zeitschrift. Es gelang den Autoren, mithilfe dieser Publikation zunächst über Mundpropaganda und später über soziale Netzwerke, Blogs und das Internet außerhalb Kubas eine solidarische Gruppe aufzubauen.

Der Titel der klandestinen Zeitschrift ist provokant gewählt, denn es handelt sich gerade nicht um eine Diaspora im klassischen Sinne. Die Autoren erheben den Anspruch auf einen Sonderstatus innerhalb des Inselstaates, der sich von Nationalismen, offiziellen Narrativen und Ästhetiken der 1990er-Jahre abgrenzt: nämlich den des inneren literarisch-intellektuellen Exils. Die inhaltliche und ästhetische Hinwendung zum kubanischen Kontra-Kanon sowie der Versuch, durch literaturtheoretische/ literarische Einfuhr aus Europa – teils nicht legitimierter oder noch nie zuvor auf der Insel publizierter Werke – eine kubanische Neo-Avantgarde zu kreieren, sind u.a. zentrale Momente der kubanischen Intellektuellengruppe, deren Mitglieder heute mehrheitlich im Exil leben.